20060830

Ralph Giordano: Die Bertinis (1982)

Ich hatte ja schon in Momentane Lektüre etwas zu dem Buch geschrieben; jetzt, da ich es zu Ende gelesen habe, noch ein wenig mehr.
Inwieweit das Buch autobiographische Züge trägt, verrät der Autor gegen Ende selbst. Er erzählt, wie er anfangen wollte zu schreiben, und sich ihm plötzlich unbeantwortete Fragen stellten, wie die nach der Form des Buches - und wie ihm dann irgendwann klar wurde, dass er einen Roman daraus formen müsse. Das ist ihm gelungen. Da sich einige der Schrullen, die die dargestellten Charaktere aufweisen, in anderer Verpackung auch in dem kleinen Erzählband "Der Wombat" finden, kann man wohl davon ausgehen, dass sie auf seinen ursprünglichen Notizen beruhen, die er auch für die Bertinis verwendet hat. Da es sich dabei um autobiographische Notizen handelt, beantwortet das auch die Frage nach dem "Wahrheitsgehalt" des Buches: Es stellt die Geschehnisse so dar, wie sie waren, aber soweit verfremdet, wie die Form es erfordert.

Mir ist vor allem eines an dem Buch aufgefallen: Es erschreckt nicht und es wirkt nicht resigniert. Andere Texte über die Zeit des Dritten Reiches, seien es Celans Gedichte, Klemperers Tagebücher oder die Romane von Gert Ledig, haben mich immer irgendwie erschreckt. Aus Ralph Giordanos Buch dagegen scheint der Autor zu sprechen, der zwar dem Schrecken ausgesetzt war, der aber weiß, dass er es überwunden, dass er überlebt hat. Er erzählt uns eine Familiengeschichte in einer schwierigen Zeit, ohne zu moralisieren oder belehren zu wollen. Es mag mit dem späten Erscheinungsdatum des Romans zu tun haben, er erschien 1982, also fast 40 Jahre nach Kriegsende.

Fazit: Ich kann nur empfehlen diesen fast 800 Seiten umfassenden Roman zu lesen. Es ist eines der Bücher, die mir in Erinnerung bleiben werden.

20060826

Es ist also auch anderen aufgefallen...

In Tschechien kam es mir wiederholt so vor, als mache es einen Unterschied, dass ich Deutscher sei. Mit den paar tschechischen Floskeln, auf die ich mich im Ernstfall besinnen kann, bin ich meistens recht schnell am Ende, und muss dann doch wieder auf deutsch oder englisch zurückgreifen. In dem Moment kann man beim jeweiligen Gegenüber einen Mienenwechsel, bisweilen sogar eine Veränderung der Tonlage ins Unfreundlichere hin feststellen, zumindest glaube ich das bemerkt zu haben. Ich war mir unsicher, ob ich mir das nur einbilde, aber heute fand ich durch Zufall Alienliebe, ein Blog mit stellenweise recht originellen Beiträgen. Was Tobi schildert ist genau das Gleiche:

"Schlage ich mich mit tschechischen Floskeln durch, werde ich konsequent fuer einheimisch gehalten. Das gibt mir zu denken.
Gebe ich mich als Deutscher zu erkennen, aendert sich die Haltung von der Haelfte meiner Gegenueber in leicht bis offen feindselig. Das gibt mir noch mehr zu denken. Kann ich aber kaum verdenken."

20060820

Bitte, liebe Kamera, hilf mir! (a rant)

Bitte, liebe Kamera, hilf mir!

"Schäuble will Terror mit Kameras verhindern" titelt die Netzeitung. "Der Fall habe deutlich gezeigt, dass die Videoüberwachung «entscheidende Ermittlungsansätze liefert, und dass wir dadurch die wertvollen Erkenntnisse über die mutmaßlichen Täter erhalten haben», so Schäuble in Berlin", das Blat^W^Wder Bytehaufen weiter.

Was genau hätte euch das in dem Moment genutzt, wenn diese Bomben hochgegangen wären? Hättet ihr die Videos anschließend heimlich an Goatse verkauft!? Oder doch besser an rotten.com:"Ah, kuck mal, da explodiert der Zug! Toll!" In dem Moment, wo einer Frau, die gerade im Begriff steht, nachts auf einem einsamen Parkplatz vergewaltigt zu werden, die Kamera zu Hilfe eilt, werde ich für Videoüberwachung stimmen. Bis dahin bin ich für personelle Verstärkung der Polizei.

Anyway, nachdem ich kürzlich mit Kameras und Videoüberwachungssystemen zu tun hatte, würde ich sowieso jedem Bankräuber empfehlen, die Kameras am Wunschüberfallort erst einmal genau zu checken. Vielleicht ist die Software auf den dort laufenden Appliances ja ebenfalls vier Jahre alt. Und vielleicht braucht man ja wirklich einen Apache, den X-Server, den Druckdienst und noch ein paar andere offene Ports, um ein paar Bilddaten zu übertragen... Das ganze ist natürlich hochsicher (Webseite des Herstellers): "Die digitalen Bildaufzeichnungssysteme sorgen in den vielfältigsten Anwendungsbereichen für Ihre Sicherheit und Schutz. Dafür sorgt nicht allein die Zuverlässigkeit der digitalen Recorder, dank der ausgezeichneten Qualität von Hard- und Software Komponenten und dem bekanntermaßen stabilen Sicherheits-Betriebssystem LINUX, sondern auch aussagekräftige Bilder, auf denen jedes kleinste Detail im Bedarfsfall sichtbar gemacht werden kann." Sicherheiz-Betrybssystem Lynux... Aha. Da braucht man vier Jahre lang keine Updates. Das stärkt mein Vertrauen in die Korpulenz dieser Firma doch ungemein...

20060814

One for the Trekkies out there...

Die Echosphere hat seit ein paar Wochen Star Trek Inspirational Posters:


SAN FRANCISCO

The only city in the world where you can dress like this and people won't look twice.





EXPENDABILITY

Kirk, Spock, McCoy, and Ensign Ricky are beaming down to the planet. Guess who's not coming back.

20060812

Antikomplex

Diese Woche bin ich in der Bücherei auf ein interessantes Buch gestoßen: "Zmizelé Sudety. Das verschwundene Sudetenland" (Nakladatelství Českého lesa, Taus 2004. ISBN 80-86125-45-9). Es handelt sich dabei um einen Katalog, der die gleichnamige Ausstellung, das bekannteste Projekt der tschechischen Gruppe Antikomplex, dokumentiert (Die Webseite von Antikomplex ist komplett in tschechisch verfasst, ein Profil der Gruppe auf deutsch findet man bei Radio Prag).

Die Ausstellung arbeitet auf besondere Weise einen Teil der deutsch-tschechischen Geschichte auf: Durch eine Gegenüberstellung von Fotos aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und von heute wird die Entwicklung der ehemals deutsch besiedelten Gebiete deutlich. Viele kleine Dörfer und Gehöfte verfielen; heute sind oft nurmehr wenige Spuren von ihnen zu erkennen. Die nachfolgenden tschechischen Siedler rückten in ein leeres Land ein, waren zudem der Gegend fremd und hatten daher keinen Bezug zu ihrer neuen Heimat. Viele kamen auch weit aus dem Osten. Dadurch ging ein wesentlicher Teil der Kultur und der überlieferten Geschichte in den tschechischen Grenzgebieten verloren.
Ich kannte diesen Aspekt der Geschehnisse nach dem Zweiten Weltkrieg seit der Lektüre des Buches "Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück" von Peter Glotz (Ullstein, München 2003. ISBN 3-550-07574-X). Es gehört zum Besten, was ich bisher über die deutsch-tschechische Geschichte gelesen habe.

Glotz schreibt:
"Man muss sich klar machen, welche Dimensionen der Vorgang der Wiederbesiedelung hatte. Die Bevölkerungsdichte des Sudetenlandes lag 1938 bei ungefähr 127 Personen pro Quadratkilometer. 1950 betrug sie nur mehr 82 Personen pro Quadratkilometer. Das war durchaus einkalkuliert. Der Vorsteher des Prager Besiedelungsamtes hat einmal - im Herbst 1947 - geschrieben: 'Die ganze Nation war sich bewusst, dass der Abschub durchgeführt werden muss, auch wenn im Grenzgebiet Unkraut wachsen sollte'. Gelegentlich wuchs Unkraut.
[...]
Die erste Welle der Neusiedler kam schon in den ersten Monaten nach Kriegsende. Schon in den Monaten Mai bis August 1945 waren allein in Nordwestböhmen 2833 neue Nationalverwalter in Geschäften und anderen Gewerbebetrieben eingesetzt. Man musste nach dem Prinzip 'Quantität vor Qualität' vorgehen. So mischten sich Goldgräber (zlatokopcové) unter die Bauern oder Geschäftsleute, also Glücksritter, die Beute machten und sich so schnell wie möglich wieder ins Landesinnere zurückzogen. Viele der Nationalverwalter hatten nicht genug Erfahrung, um einen eigenen Hof zu bewirtschaften, und nicht genug Kredit, um ein Geschäft wiederaufzubauen.
"


Ich war sehr überrascht, bei der Lektüre des Ausstellungskataloges auf einen Artikel des Journalisten Thomáš Feřtek zu stoßen, der offenbar ähnliche Gedanken hegt:

"Protože když si položím otázku, kdo na odsun nejvíc doplatil, kdo byl nejvíc potrestán a za co, mám cím dál víc pocit, že Němci to nebyli. Ano, přišli o majetek, ale české pohraničí je nad jiné jasný důkaz, že bohatství nepramení z majetku, ale z lidské tvořivosti. Když po válce odešly ze Sudet tři miliony Němců, jejich majetek tam zůstal. Jsme snad my kteří jsme obsadili jejich prázdné domy, o to bohatší? Jediný pohled na mělnickou náves vás přesvědčí, že konfiskací se zbohatnout nedá.
[...]
Země bez vlastníka prostě nasává jak pumpa lidi nezakotvené, lidi, kteří jsou spíš zvyklí přešívat než budovat. A ti přicházeli v desetiletích po válce do vyprázdněné krajiny, ve které nebylo nic, o co se by mohli opřít, co by jim, často bloudící, pomohlo zorientovat se v životě. Zbyla tu jen duchovní prázdnota a řada prázdných domů. Tak se přizpůsobili té prázdnotě."


[Wenn ich mir die Frage stelle, wer an der Abschiebung am meisten bezahlte, wer am meisten bestraft wurde und wofür, habe ich mehr und mehr das Gefühl, die Deutschen waren es nicht. Ja, sie verloren ihr Eigentum. Aber das tschechische Grenzgebiet ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass Reichtum nicht aus Eigentum herrührt, aber aus menschlicher Tätigkeit. Als nach dem Krieg drei Millionen Deutsche aus den Sudeten weggingen, blieb ihr Eigentum dort. Sind wir nun, die wir deren leere Häuser in Besitz nahmen, um so viel reicher? Ein einziger Blick auf den Melmitzer Dorfplatz überzeugt Sie, dass man durch Konfiszierung nicht reich werden kann.
[...]
Ein Land ohne Eigentümer saugt wie eine Pumpe die nicht verwurzelten Menschen auf, Menschen, die es eher gewöhnt sind, zu überleben als aufzubauen. Und solche kamen in den Jahrzehnten nach dem Krieg in die ausgeräumte Landschaft, in der nichts war, auf das sie sich stützen konnten, was ihnen, den oft Verirrten, helfen konnte sich zu orientieren. Es blieb hier nur geistige Leere und leere Häuser. Und so passten sie sich der Leere an.
]

Ich finde die Ausstellung, die man sich auf der Webseite http://www.zmizelesudety.cz/ teilweise anschauen kann, sehr interessant. Nicht nur das Konzept, statt Text einfach Bilder sprechen zu lassen, fasziniert mich. Es freut mich auch, dass es in Tschechien Initiativen gibt, die zum Ziel haben, das belastete Verhältnis zwischen den beiden Völkern zu verbessern und die Diskussion über die eigene Vergangenheit in Gang zu bringen. Zumindest letzteres scheint mir in Deutschland schon weiter fortgeschritten zu sein.
Andererseits höre ich gerade hier in Neufünfland immer wieder abfällige Bemerkungen über Polen oder Tschechen; etwas, das mir aus meiner Heimat gegenüber Franzosen so nicht bekannt war, zumindest nicht in diesem Maße. Anscheinend versteckten sich in der DDR unter dem Mantel der sozialistischen Verbrüderung viele unausgesprochene Ressentiments. Auch auf deutscher Seite bleibt also noch einiges nachzuholen, bis wir in Europa angekommen sind.

20060805

Momentane Lektüre

Wie üblich liegt mein Nachtschrank voller Bücher, die ich alle umeinander lese, ein jedes dann, wenn mir gerade danach ist. Zur Zeit komme ich nicht wirklich viel zum Lesen, daher ist mein Stapel angelesener Bücher gerade besonders hoch; ich zähle dreizehn Bände.


Harald Schmidts "Mulatten in gelben Sesseln" hat sich bis ganz nach unten durchgearbeitet. Eigentlich mag ich Harald Schmidt, aber seinem Gefasel in diesem Buch konnte ich nichts abgewinnen. Na ja, vielleicht fehlte mir die seichte Stimmung.


Gleich darüber liegt Bastian Sick: "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Folge 2". Den ersten Band hatte ich Anfang des Jahres mit Genuss gelesen, aber der zweite Teil kam mir wie ein Abklatsch des ersten vor. Über die ersten 60 Seiten bin ich noch nicht hinausgekommen, obwohl Sprache ja eines meiner Lieblingsthemen ist. Mal sehen, wann ich dazu wieder Lust habe.


Gleich darüber liegt Götz Fehrs "Böhmisches Kursbuch". Der Autor erzählt Geschichten aus seiner Budweiser Heimat. Teilweise ist das Buch mit tschechischen diakritischen Zeichen geschrieben, die sich dafür überraschend gut eignen. Man muss aber zumindest wissen, wie die Buchstaben im Tschechischen ausgesprochen werden, um es einigermaßen flüssig lesen zu können. Der Inhalt sind Geschichten aus der Erinnerung des Autors. Er schildert Personen und Lebensweise in Böhmen vor der Vertreibung, auf eine nette, heitere Art ganz ohne Wehleidigkeit. Allerdings ist es vom literarischen Standpunkt her auch nicht mehr, die Geschichten sind belanglos, ohne den Anspruch Hochliteratur sein zu wollen. Damit hat das Buch wahrscheinlich den größten Wert für Menschen, die selbst noch vor dem Krieg in Böhmen gelebt haben.


"Erzählungen von 1937 - 1983 (Bd. I)" von Heinrich Böll kommt als nächstes. Die Erzählungen in diesem Buch deprimieren mich, ich kann es nur Stück für Stück lesen, alle paar Tage eine Geschichte. Ich besitze die vierbändige Taschenbuchausgabe von Kiepenheuer & Witsch; es warten also noch weitere drei Bände auf mich. Ich habe bisher kaum etwas von Böll gelesen und hoffe, dass die Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit der Kriegs- und Nachkriegsjahre, die aus dem bisher Gelesenen spricht, in seinen späteren Erzählungen weniger dominant zutage tritt.


Vor ein paar Monaten habe ich mir endlich Victor Klemperers Tagebücher angeschafft, die ich immer schon einmal lesen wollte. Es gilt hier jedoch dasselbe wie für den Böll: Ich vertrage die Lektüre nur in homöopathischen Dosen, weshalb ich auch erst bis zum Anfang 1934 vorgedrungen bin. Ich bin immer noch außerstande, zu verstehen, wie es zu so etwas kommen konnte (und solange ich mir der Enstehungsbedingungen nicht sicher bin kann ich auch eine Wiederholung nicht ausschließen). Aus heutiger Sicht betrachtet war Klemperer nachgerade naiv; aber gerade sein naiver Glaube an die Zivilisation, die Zivilisiertheit seiner Mit-Deutschen konfrontiert den Leser mit der absurden Brutalität des Alltags im Deutschland der 30er Jahre.


Volker Braun: "Berichte von Hinze und Kunze". Ein kleiner Band mit meist sehr kurzen, nachdenkenswerten Texten, die mich stark an Brechts Herrn Keuner erinnern. Fünf Minuten lesen und eine Stunde darüber nachdenken. Absolut empfehlenswert!


Von Otto Flake kannte ich nicht einmal den Namen, bis ich zufällig auf Ebay drei Romane günstig ersteigerte. Ich begann vor zwei oder drei Wochen mit "Fortunat", einer verwickelten, langwierigen Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Nach etwa 120 Seiten kann ich sagen, dass der Roman stellenweise etwas langatmig, aber nicht ganz reizlos ist. Von der Machart her fühlte ich mich irgendwie an Romain Rolland erinnert, wahrscheinlich weil mir "Clerambault" ebenfalls recht zäh erschien. Hoffen wir, dass Fortunat im weiteren Verlauf der Geschichte etwas mehr an Fahrt gewinnt als die Selbstzweifel des französischen Professors im Ersten Weltkrieg.


Die "Sterntagebücher" von Stanislaw Lem waren unter den Computerfreaks im Usenet gerühmt worden, weshalb ich mir das kleine Buchpaket aus Suhrkamps Phantastischer Bibliothek besorgte. Die ersten 50 Seiten des ersten Bandes sind bisweilen sehr skurril, hinterließen bei mir aber keinen bleibenden Eindruck, wie ich es von anderen Werken Lems gewohnt war. Mal sehen, was der Rest noch bringt.


In meiner Stammkneipe stehen in einem kleinen Regal ein paar Bücher, von denen ich mir letztens den Gedichtband "Im Umkreis der Feuer" von Uwe Grüning mit nach Hause nahm. Als ich der Wirtin erzählte, wie sehr mir die Gedichte darin gefielen, schenkte sie mir das Buch kurzerhand. Ich habe wahrscheinlich alle Texte darin bereits gelesen, aber ich schlage das Buch immer wieder auf. Ich hatte in letzter Zeit nicht viele Gedichtbände in der Hand, die mich so sehr fesselten, und die vor allem durchweg so gut sind. Auch die "Gesammelten Gedichte" von Hilde Domin enthalten Gedichte, die mir sehr gut gefallen, aber es sind auch viele darin, mit denen ich nichts anfangen kann.


Den größten Teil meiner derzeit leider sehr spärlichen Lesezeit widme ich Ralph Giordanos "Die Bertinis". Ich habe vor kurzem ein kleinformatiges Taschenbüchlein mit ein paar kurzen, anscheinend autobiographischen Texten von Giordano gelesen, deren Inhalt ich - etwas anders verpackt - in diesem Familienroman wiederfinde. Sobald ich die Zeit finde, werde ich mich mit seiner Biographie beschäftigen, weil es mich interessiert, wieviel "Wahrheit" in diesem Roman steckt. Giordano hat einen angenehmen Schreibstil, der sich flüssig lesen lässt; außerdem beherrscht er die Kunst, durch die skizzenhafte Schilderung einiger weniger, aber wesentlicher Merkmale Dinge völlig zu umschreiben ohne umständlich sämtliche Details zu bemühen. Ich habe zwar erst ein Drittel gelesen, wage aber dennoch eine Empfehlung für dieses Buch auszusprechen.


Auf meinem Stapel liegen auch noch drei weitere Bücher, die ich mir zwar schon herausgesucht habe, ohne jedoch zum Lesen zu kommen. Es sind Gogols "Phantastische Novellen", "Der Prophet" von Kalil Gibran und "Herr Levi" von Amos Oz. In Zusammenhang mit den Geschehnissen im Nahen Osten reizt mich derzeit vor allem das Buch von Oz, von dem ich mir einen Einblick in die Zeit kurz vor der Gründung des Staates Israel erhoffe. Dazu also demnächst mehr.

20060804

Pozdrowienia z Alej Jerozolimkich

Eine Palme in Warschau? Ja und!?
Die polnische Künstlerin Joanna Rajkowska hat auf der Aleje Jerozolimskie (Jerusalemer Chaussee) mitten in Warschau eine künstliche Palme aufstellen lassen. Ursprünglich war die Idee ein Spaßprojekt, entwickelte sich jedoch durch den politischen Wirbel, den die Installation entfachte, in Polen zu einem der bekanntesten Kunstwerke und zugleich zur Versinnbildlichung des Protestes der Künstlerszene gegen die konservative Regierungspolitik, die am liebsten nicht einmal einen fremden Baum zulassen möchte. Aufmerksam geworden bin ich auf die Geschichte durch einen Bericht im DLF, in dem es unter anderem hieß, einer der Kaczynski-Brüder habe gesagt, die Künstlerin hätte lieber eine Tanne aufstellen sollen, das sei passender für Polen. Wenn ich mir die polnische Regierung derzeit so anschaue, bin ich mit unserer gleich sehr viel zufriedener. Alles eine Frage der Perspektive...

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Hier noch ein Auszug aus einem Interview mit Joanna Rajkowska (aus dem Englischen übersetzt von mir):

Sie haben durch das Aufstellen dieses großen, exotischen Baumes mitten in der Stadt etwas aus der tropischen Welt hierhin zu übertragen versucht, etwas, das Sie hier in Polen vermissen, ist das wahr? Etwas von dort? Was genau?

Ich vermisse die Vielfältigkeit dieser Welt. Ich vermisse die Juden, deren Abwesenheit durch den Straßennamen so deutlich hervortritt. Keine kleine Gruppe angepasster Leute. Ich vermisse die Leute, die wortwörtlich anders sind, die ihr Anderssein ohne Verlegenheit, aber auch ohne Aggression zeigen. Ich vermisse sowohl die Juden als auch die Afrikaner, die Schwarzen, gleichermaßen. Ich vermisse die Energie der Auswanderer, die sich entschieden haben, alles hinter sich zu lassen und von vorn anzufangen; ihre Ruhelosigkeit und Stärke. Vielleicht gefällt es mir wegen dieser Sehnsüchte so gut auf dem Bazaar Europa**. Polen ist in dieser Hinsicht hoffnungslos. Eine weiße, katholische Gesellschaft, ähnliche Verhaltensweisen und ähnliche Überzeugungen. Schrecklich, diese unausgesprochene Einigkeit, diese "Normalheit". Es gibt keine Minderheiten oder Mehrheiten irgendeiner Art, es gibt nur eine ärmere oder reichere homogene Masse. Vielleicht kommen der polnische Rassismus und die Intoleranz daher. Ich sage nicht, dass Israel das Land der Toleranz ist; ich denke, es ist auch ein rassistisches Land, aus anderen Gründen... Darüberhinaus ist Israel ständig in einem Prozess des Sich-selbst-neu-Formens, in jeder Hinsicht. Es ist ein Land, in dem jeder denkende Mensch sich fundamentale Fragen stellen muss.
Ich vermisse auch die Spannung. Ich vermisse die Kommunikation mit dem Rest der Welt, die in Israel so evident ist. Polen ist in so vieler Hinsicht ein Ghetto, dass mir manchmal die Luft wegbleibt.
Ich habe den Baum gepflanzt und behandle ihn als ein Element der Kommunikation zwischen den Leuten, Kommunikation ohne Worte oder intellektuelle Inanspruchnahme. Es ist wie im Traumtagebuch: Ich will nicht, dass sich die Leute "verstehen". Ich will, dass sie sich nahe SIND. Unter der Palme.

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**Stadionie Dziesięciolecia, ein schwarzer Markt in Warschau.