20060812

Antikomplex

Diese Woche bin ich in der Bücherei auf ein interessantes Buch gestoßen: "Zmizelé Sudety. Das verschwundene Sudetenland" (Nakladatelství Českého lesa, Taus 2004. ISBN 80-86125-45-9). Es handelt sich dabei um einen Katalog, der die gleichnamige Ausstellung, das bekannteste Projekt der tschechischen Gruppe Antikomplex, dokumentiert (Die Webseite von Antikomplex ist komplett in tschechisch verfasst, ein Profil der Gruppe auf deutsch findet man bei Radio Prag).

Die Ausstellung arbeitet auf besondere Weise einen Teil der deutsch-tschechischen Geschichte auf: Durch eine Gegenüberstellung von Fotos aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und von heute wird die Entwicklung der ehemals deutsch besiedelten Gebiete deutlich. Viele kleine Dörfer und Gehöfte verfielen; heute sind oft nurmehr wenige Spuren von ihnen zu erkennen. Die nachfolgenden tschechischen Siedler rückten in ein leeres Land ein, waren zudem der Gegend fremd und hatten daher keinen Bezug zu ihrer neuen Heimat. Viele kamen auch weit aus dem Osten. Dadurch ging ein wesentlicher Teil der Kultur und der überlieferten Geschichte in den tschechischen Grenzgebieten verloren.
Ich kannte diesen Aspekt der Geschehnisse nach dem Zweiten Weltkrieg seit der Lektüre des Buches "Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück" von Peter Glotz (Ullstein, München 2003. ISBN 3-550-07574-X). Es gehört zum Besten, was ich bisher über die deutsch-tschechische Geschichte gelesen habe.

Glotz schreibt:
"Man muss sich klar machen, welche Dimensionen der Vorgang der Wiederbesiedelung hatte. Die Bevölkerungsdichte des Sudetenlandes lag 1938 bei ungefähr 127 Personen pro Quadratkilometer. 1950 betrug sie nur mehr 82 Personen pro Quadratkilometer. Das war durchaus einkalkuliert. Der Vorsteher des Prager Besiedelungsamtes hat einmal - im Herbst 1947 - geschrieben: 'Die ganze Nation war sich bewusst, dass der Abschub durchgeführt werden muss, auch wenn im Grenzgebiet Unkraut wachsen sollte'. Gelegentlich wuchs Unkraut.
[...]
Die erste Welle der Neusiedler kam schon in den ersten Monaten nach Kriegsende. Schon in den Monaten Mai bis August 1945 waren allein in Nordwestböhmen 2833 neue Nationalverwalter in Geschäften und anderen Gewerbebetrieben eingesetzt. Man musste nach dem Prinzip 'Quantität vor Qualität' vorgehen. So mischten sich Goldgräber (zlatokopcové) unter die Bauern oder Geschäftsleute, also Glücksritter, die Beute machten und sich so schnell wie möglich wieder ins Landesinnere zurückzogen. Viele der Nationalverwalter hatten nicht genug Erfahrung, um einen eigenen Hof zu bewirtschaften, und nicht genug Kredit, um ein Geschäft wiederaufzubauen.
"


Ich war sehr überrascht, bei der Lektüre des Ausstellungskataloges auf einen Artikel des Journalisten Thomáš Feřtek zu stoßen, der offenbar ähnliche Gedanken hegt:

"Protože když si položím otázku, kdo na odsun nejvíc doplatil, kdo byl nejvíc potrestán a za co, mám cím dál víc pocit, že Němci to nebyli. Ano, přišli o majetek, ale české pohraničí je nad jiné jasný důkaz, že bohatství nepramení z majetku, ale z lidské tvořivosti. Když po válce odešly ze Sudet tři miliony Němců, jejich majetek tam zůstal. Jsme snad my kteří jsme obsadili jejich prázdné domy, o to bohatší? Jediný pohled na mělnickou náves vás přesvědčí, že konfiskací se zbohatnout nedá.
[...]
Země bez vlastníka prostě nasává jak pumpa lidi nezakotvené, lidi, kteří jsou spíš zvyklí přešívat než budovat. A ti přicházeli v desetiletích po válce do vyprázdněné krajiny, ve které nebylo nic, o co se by mohli opřít, co by jim, často bloudící, pomohlo zorientovat se v životě. Zbyla tu jen duchovní prázdnota a řada prázdných domů. Tak se přizpůsobili té prázdnotě."


[Wenn ich mir die Frage stelle, wer an der Abschiebung am meisten bezahlte, wer am meisten bestraft wurde und wofür, habe ich mehr und mehr das Gefühl, die Deutschen waren es nicht. Ja, sie verloren ihr Eigentum. Aber das tschechische Grenzgebiet ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass Reichtum nicht aus Eigentum herrührt, aber aus menschlicher Tätigkeit. Als nach dem Krieg drei Millionen Deutsche aus den Sudeten weggingen, blieb ihr Eigentum dort. Sind wir nun, die wir deren leere Häuser in Besitz nahmen, um so viel reicher? Ein einziger Blick auf den Melmitzer Dorfplatz überzeugt Sie, dass man durch Konfiszierung nicht reich werden kann.
[...]
Ein Land ohne Eigentümer saugt wie eine Pumpe die nicht verwurzelten Menschen auf, Menschen, die es eher gewöhnt sind, zu überleben als aufzubauen. Und solche kamen in den Jahrzehnten nach dem Krieg in die ausgeräumte Landschaft, in der nichts war, auf das sie sich stützen konnten, was ihnen, den oft Verirrten, helfen konnte sich zu orientieren. Es blieb hier nur geistige Leere und leere Häuser. Und so passten sie sich der Leere an.
]

Ich finde die Ausstellung, die man sich auf der Webseite http://www.zmizelesudety.cz/ teilweise anschauen kann, sehr interessant. Nicht nur das Konzept, statt Text einfach Bilder sprechen zu lassen, fasziniert mich. Es freut mich auch, dass es in Tschechien Initiativen gibt, die zum Ziel haben, das belastete Verhältnis zwischen den beiden Völkern zu verbessern und die Diskussion über die eigene Vergangenheit in Gang zu bringen. Zumindest letzteres scheint mir in Deutschland schon weiter fortgeschritten zu sein.
Andererseits höre ich gerade hier in Neufünfland immer wieder abfällige Bemerkungen über Polen oder Tschechen; etwas, das mir aus meiner Heimat gegenüber Franzosen so nicht bekannt war, zumindest nicht in diesem Maße. Anscheinend versteckten sich in der DDR unter dem Mantel der sozialistischen Verbrüderung viele unausgesprochene Ressentiments. Auch auf deutscher Seite bleibt also noch einiges nachzuholen, bis wir in Europa angekommen sind.